das Eck – Von Transformationen und Zwischenräumen (D)
media historian and freelance writer,
for the photobook "das Eck", kerber Verlag
2015
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das Eck
Ecken, Kanten, strenge Geometrie. Die Stadt erscheint als ein klar durchzogenes System von Linien und Strukturen. Besonders deutlich wird dies in der Architektur der Gebäude, die in ihrer äußeren Form Funktionalität und Regelhaftigkeit fixieren und darlegen. Gleichzeitig werden diese Dispositionen aber durch die Zweckmäßigkeit der Ordnungen und Anordnungen unsichtbar gemacht. Im Alltag kaum wahrgenommen, sind diese Orte der Stadt oftmals nur Begrenzungen zwischen Straßen und Häusern. Zwischen der ersten und der zweiten Etage. Winkel und Nischen. Fassaden an Gebäuden, die eine Abgrenzung zwischen Innen und Außen, zwischen Öffentlich und Privat markieren.
Wir sind umgeben von Formen und Systemen, die in ihrer augenblicklichen Zusammensetzung unsere Umgebung gliedern. Es ist das Gesicht der Stadt und ihr Faltenwurf. Oberflächen und Muster bilden dabei eine Komposition von Geschmack und Nutzen. Und geben uns damit einen Eindruck des jeweiligen Zeitgeistes und des Arrangements des Lebens im städtischen Gefüge. Denn bei genauerem Hinsehen finden sich Momentaufnahmen von Verschachtelungen und Überlagerungen, die die statische Geschlossenheit individualisieren und abstrahieren. Ausschnitte dieses Systems, die das Eckige und Kantige in ihren Begrenzungen auflösen und andere Orte, andere Welten eröffnen. Es geht um ein Dahinter und Dazwischen. Um neue Blickwinkel, die irritieren und zu erweiterten Sichtweisen auffordern.
Andrea Grützner spürt diesen Dingen in ihren Fotografien nach. Sie nimmt diese Orte in den Fokus und entdeckt die Stadt Koblenz mit all ihren Ecken und Kanten auf eine ganz spezifische Weise.
Es sind nahe und intensive Blicke. Durch die Konzentration auf bestimmte Ausschnitte erfolgt eine Entgrenzung und Transformation des zuvor so Eindeutigen. Das Statische und die strenge Geometrie werden aufgehoben und anders zentriert. Verfremdungen entstehen. Und neue Dynamiken. Wo ist oben und wo ist unten? Wo fängt der eine Teil an und wo hört der andere auf?
Dazu wird die scheinbare Undurchdringbarkeit der Fassaden durchlässig. Andrea Grützner findet kleine Widerhaken in den glatten Oberflächen, die diese durchbrechen und ihren Eigensinn offenbaren. Es sind Momente, in denen die Perfektion und die Funktionalität gestört werden. Geöffnete Fenster, zerbrochene Fliesen und eine Pflanze in einem erleuchteten Fenster eines ansonsten kalten und abweisenden Gebäudes. Sie macht Spuren sichtbar. Spuren, die die Inbesitznahme des Ortes durch den Menschen zeigen. Und wandelt dadurch Orte zu Räumen, die konzentriert durch die fotografische Reduktion bemerkbar werden. Eindrücklich an den Fotografien ist die Hervorhebung von Farbgestaltungen. Durch die Sichtbarmachung von Kolorierungen wird das Strukturierte und Linienhafte hervorgehoben. Auf bestimmte Weise in manchen Fällen aber auch erst durch diese Fokussierung kreiert. Wir sehen die Einheitlichkeit von roten Balkonen und die individuelle Gestaltung von Häuserwänden in blau und grau, die gleichermaßen akzentuiert, in ihrer augenscheinlichen Formelhaftigkeit bestätigt und dennoch aus der Eindimensionalität herausgelöst werden. Es entstehen Tiefe und Lebendigkeit.
Wiederholt wird dieser Effekt in Figuren und Figürlichem, die Andrea Grützner aus dem Stadtbild isoliert und in Alleinstellungen narrativ mit den strengen Linien kontrastiert. Auch hier geht es um Transformationen und Verfremdungen. Eine Büste hinter verschwommenen Glas, Säulen, die getrennt von ihrem Hintergrund scheinbar ihre Rundungen aufgeben, eine Statue, die je nach Blickwinkel andere Leerstellen aufweist. Sie sind Marker für den Dialog mit der regelhaften Architektur, die keineswegs widersprechen, sondern durch ein Nebeneinander von alten und neuen Strukturen, durch Brüchigkeit und Stabilität die Komposition unterstützen. Ein Entwurf mit Masken, die aufgedeckt und gleichzeitig neu und anders wieder aufgelegt werden.
Es sind Sinnesspielereien. Mit Vertrautem und Alltäglichem, das durch den hohen Grad der Abstraktion in ihrer Eindeutigkeit gewandelt wird. Mit Linien und Rastern. Geometrischem und Systematischen. Vor allem aber mit Formen und Farben. Unterschiedlichste Materialien, in ihrer dargelegten Farbgebung aufgefunden und zu einer besonderen Ästhetik emporgehoben. Verwandelt im Wechselspiel von Licht und Schatten. Das Statische wird fluide und proteisch.
Andrea Grützner lädt mit ihren Fotografien zu einem ganz besonderen Blick auf Koblenz ein. Es ist ein zweiter und ein tieferer Blick, der ausschnitthaft Zwischenräume freilegt. Durch die Rekontextualisierung von Ecken, Kanten und alltäglichen Orten legt sie den Blick auf das Besondere im Alltäglichen frei. Es ist nicht mehr der Blick auf das Ganze, sondern auf die Teile, die herausgestellt und neu verbunden, ein anderes Bild bieten. Losgelöst von intendierten Sehstrategien lösen sich Architekturkonzepte in einzelne Fragmente auf und erlauben so eine Umkehrung des Gewohnten. Irritation wird zur ästhetischen Strategie. Verwunderung und Neuentdeckungen zum Konzept.
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