Andrea Grützner:News

Book Review Erbgericht (german)
at Perlentaucher
by Peter Truschner / fotolot

20.06.2025


Andrea Grützner beschäftigt sich in "Erbgericht" mit einem Ort ihrer Kindheit. Es geht ihr dabei ganz und gar nicht um eine faktenbasierte und in dem Sinn möglichst wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion der Vergangenheit. Mit einem enormen theoretischen und fotografischen Aufwand schafft sie - ein Fest fürs empfängliche Auge.

2010 begann Andrea Grützner, das "Erbgericht" , einen Familiengasthof in ihrem Heimatdorf Polenz (heute ein Ortsteil von Neustadt in Sachsen), fotografisch zu erkunden. Den Anfang bildeten realistische Bilder inklusive Hirschgeweih und Trockenblumenarrangement, deren nostalgischer Charakter ihr bald als inadäquat dafür erschien, was sie darstellen und zum Ausdruck bringen wollte.

Zwischen 2013 und 2023 entstanden dann jene Arbeiten, die im unlängst bei Hartmann erschienenen Buch "Erbgericht" versammelt sind, und die in Teilen über die Jahre immer wieder ausgestellt wurden, etwa 2016 und 2021 in der Berliner Galerie Robert Morat.

1984 im sächsischen Pirna geboren, lebte Grützner bis zu ihrem fünften Lebensjahr in Polenz. Nach der Wende zog es die Eltern westwärts nach Kaiserslautern, während ein Teil der Familie immer noch in Polenz lebt. Insofern ist die Beschäftigung mit dem Gasthof auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, die jedoch in keiner klassischen Nacherzählung mündet. Es geht Grützner nicht um eine faktenbasierte und in dem Sinn möglichst wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion der Vergangenheit.

Das Erbgericht ist ein bis ins Mittelalter zurückreichender Ort der Gerichtsbarkeit, eine dörfliche Institution, von der nur noch vereinzelte Gasthöfe existieren, in denen bis heute für die dörfliche Gemeinschaft wichtige Vorgänge wie Hochzeit und Leichenschmaus ausgerichtet werden. Der Gasthof in Polenz wurde 1898 eröffnet, ein dreigeschossiger, mächtiger Bau im Zentrum des Dorfes.

In Grützners Bildern ist der Gasthof kein reales Gebäude mehr, das man betreten kann, sondern ein Schwellenort, an dem Faktisches und Fiktives, objektive Vergangenheit und subjektive Erinnerung, Materialität und Imagination ineinander übergehen.

Ihrem Text über Grützner hat Cora Waschke ein bezeichnendes Zitat von Georges Perec vorangestellt: "Der Raum ist ein Zweifel: Ich muss ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen; er gehört niemals mir, wird mir nie gegeben; ich muss ihn erobern."

Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Text "Andere Räume" von Michel Foucault und der darin verhandelte Begriff der "Heterotopie".

Foucault beschäftigte sich mit institutionellen Räumen wie der Klinik, dem Gefängnis oder der Kaserne, die Regeln unterworfen sind, deren Einhaltung streng überwacht wird, und in denen von der bürgerlichen Norm abweichendes Verhalten konzentriert wird. Orte, die sich an den Rändern der Gesellschaft befinden, weshalb es strenge Ein- und Ausgangsrituale gibt, darunter solche, denen freiwillig, aber auch solche, denen nur unfreiwillig und infolge einer Gehorsamspflicht nachgekommen wird, der man nur per Gesetzesbruch entkommen kann.

Grützners Rekonstruktion und ästhetische Transformation des Erbgerichts steht zu den Beschreibungen von "Orten, außerhalb von Orten" in "Wahnsinn und Gesellschaft" und "Überwachen und Strafen" in einem eher allegorischen Verhältnis. Ihre subjektive Archäologie weist jedoch eine Nähe zu Foucaults Illusions- und Kompensationsräumen auf, die parallel einen weiteren realen Ort zu einem bereits existierenden imaginieren, der einige Merkmale seines Ab- und Vorbilds aufweist, in entscheidenden Punkten jedoch davon abweicht.

Grützners Fotos huldigen dem Fragment, nicht dem Ganzen, dem Ausschnitt, nicht der Totalen. Sie abstrahiert das vorgefundene Material und die historischen Spuren seiner Nutzung, um es mit Mitteln der Fotografie neu zusammenzufügen, wobei diese Konkretion transitorisch bleibt, reine Gegenwart, die Vergangenes und Zukünftiges nur evoziert, nicht evident macht.

Der fotografische Transformationsprozess bedarf akribischer Vorbereitung.

Auf die erste Tuchfühlung in einem Skizzenbuch, in dem Lichtsituationen festgehalten werden und mit Brennweiten experimentiert wird, folgen Testaufnahmen (mit Polaroid oder digital). "Manchmal laufe ich durchs Haus und berühre Dinge mit den Händen. Bewegung im Raum, die dem Abtasten des Raums mit Licht und Farbe gleicht. An manchen Stellen muss man kriechen, um Lichtsituationen auszuprobieren."

Danach wird mit entkoppelten Aufsteckblitzen gearbeitet, die mit farbigen Gels manipuliert werden. Das Interieur wird auf diese Weise eingefärbt, die ursprünglich im Gasthof dominierenden Farben verschwinden. In dem man bei den großen, analog aufgenommenen Hochformaten an der Wand nicht sofort erkennt, ob es sich um ein Foto, Mixed Media oder gar um Malerei handelt, erzeugt Grützner einen Foucaultschen Illusionsraum, der sich von einem konkreten Vorbild nährt, das fotografische Medium jedoch, wie Grützner sagt, "an seine Ränder verschiebt, wo es einen hybriden Übergang gibt".

In einem Brief an Emile Bernard schreibt Paul Cézanne: "Indem ich beginne, mich von der Landschaft zu trennen, beginne ich, sie zu sehen."

Die mithilfe des Blitzes ungemein in den Vordergrund drängende Farbe ist bei Grützner dabei nicht Mittel, sondern Zweck.

In "Gespräche mit Cézanne" lässt Joachim Gasquet Cézanne sagen: "Ich möchte, sagte ich mir, den Raum und die Zeit malen, damit sie Formen von Farbempfindungen werden, denn ich stelle mir manchmal die Farben als monumentale Entitäten vor, als leibhaftige Ideen. (…) Eine luftige, farbige Logik tritt plötzlich an die Stelle hartnäckiger Geometrie. Ich sehe in Flecken."

In "Schizophrenie und Gesellschaft" schreibt Gilles Deleuze: "Die Arbeit des Malers besteht darin, Klischees zu zerstören. Der Maler muss einen Moment durchleben, in dem er nichts mehr sieht, einen Zusammenbruch der visuellen Koordinaten. Die Katastrophe ist die Matrix des Bildes."

Dementsprechend schrieb Paul Claudel über die klassischen, niederländischen Stillleben, dass sie "eine Zusammenstellung wären", die immer kurz davor steht, "sich wieder aufzulösen".

Den (vorläufigen) Schlusspunkt unter diesen Prozess ständiger Verwandlung setzen Grützner und ihre Designerin Johanna Flöter ganz zum Schluss: Während Grützner die Einzelbilder bewusst als Hochformate konzipierte und ausstellte, weil das Hochformat "Räume zu durchkreuzen, regelrecht zu verunmöglichen scheint, und dadurch eine andere Form der Raumverdichtung möglich wird", werden die Hochformate im Buch als doppelseitige Querformate arrangiert, was das Buch zu einem regelrechten Fest fürs empfängliche Auge werden lässt und ihm völlig zurecht einen Platz auf der Shortlist bei der diesjährigen Ausgabe von "Rencontres Arles" eingebracht hat.

Peter Truschner

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truschner.fotolot@perlentaucher.de 

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