Book Review Erbgericht (german)
at Perlentaucher
by Peter Truschner / fotolot
Andrea Grützner beschäftigt sich in "Erbgericht" mit einem Ort ihrer Kindheit. Es geht ihr dabei ganz und gar nicht um eine faktenbasierte und in dem Sinn möglichst wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion der Vergangenheit. Mit einem enormen theoretischen und fotografischen Aufwand schafft sie - ein Fest fürs empfängliche Auge.
2010
begann Andrea Grützner, das "Erbgericht"
, einen Familiengasthof in ihrem Heimatdorf Polenz (heute ein
Ortsteil von Neustadt in Sachsen), fotografisch zu erkunden. Den
Anfang bildeten realistische Bilder inklusive Hirschgeweih und
Trockenblumenarrangement, deren nostalgischer Charakter ihr bald als
inadäquat dafür erschien, was sie darstellen und zum Ausdruck
bringen wollte.
Zwischen 2013 und 2023 entstanden dann
jene Arbeiten, die im unlängst bei Hartmann erschienenen Buch
"Erbgericht" versammelt sind, und die in Teilen über die
Jahre immer wieder ausgestellt wurden, etwa 2016 und 2021 in der
Berliner Galerie
Robert Morat.
1984 im sächsischen Pirna geboren, lebte
Grützner bis zu ihrem fünften Lebensjahr in Polenz. Nach der Wende
zog es die Eltern westwärts nach Kaiserslautern, während ein Teil
der Familie immer noch in Polenz lebt. Insofern ist die Beschäftigung
mit dem Gasthof auch eine Auseinandersetzung mit der
eigenen Familiengeschichte, die jedoch in keiner klassischen
Nacherzählung mündet. Es geht Grützner nicht um eine
faktenbasierte und in dem Sinn möglichst
wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion der Vergangenheit.
Das
Erbgericht ist ein bis ins Mittelalter zurückreichender Ort der
Gerichtsbarkeit, eine dörfliche Institution, von der nur noch
vereinzelte Gasthöfe existieren, in denen bis heute für die
dörfliche Gemeinschaft wichtige Vorgänge wie Hochzeit und
Leichenschmaus ausgerichtet werden. Der Gasthof in Polenz wurde 1898
eröffnet, ein dreigeschossiger, mächtiger Bau im Zentrum des
Dorfes.
In
Grützners Bildern ist der Gasthof kein reales Gebäude mehr, das man
betreten kann, sondern ein Schwellenort, an dem Faktisches und
Fiktives, objektive Vergangenheit und subjektive Erinnerung,
Materialität und Imagination ineinander übergehen.
Ihrem
Text über Grützner hat Cora Waschke ein bezeichnendes Zitat von
Georges Perec vorangestellt: "Der Raum ist ein Zweifel: Ich muss
ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen; er gehört niemals mir,
wird mir nie gegeben; ich muss ihn erobern."
Von
großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Text "Andere
Räume" von Michel Foucault und der darin verhandelte Begriff
der "Heterotopie".
Foucault beschäftigte sich
mit institutionellen Räumen wie der Klinik, dem Gefängnis oder der
Kaserne, die Regeln unterworfen sind, deren Einhaltung streng
überwacht wird, und in denen von der bürgerlichen Norm abweichendes
Verhalten konzentriert wird. Orte, die sich an den Rändern der
Gesellschaft befinden, weshalb es strenge Ein- und
Ausgangsrituale gibt, darunter solche, denen freiwillig, aber auch
solche, denen nur unfreiwillig und infolge einer
Gehorsamspflicht nachgekommen wird, der man nur per
Gesetzesbruch entkommen kann.
Grützners Rekonstruktion
und ästhetische Transformation des Erbgerichts steht zu den
Beschreibungen von "Orten, außerhalb von Orten" in
"Wahnsinn und Gesellschaft" und "Überwachen und
Strafen" in einem eher allegorischen Verhältnis.
Ihre subjektive Archäologie weist jedoch eine Nähe zu
Foucaults Illusions- und Kompensationsräumen auf, die parallel einen
weiteren realen Ort zu einem bereits existierenden imaginieren, der
einige Merkmale seines Ab- und Vorbilds aufweist, in entscheidenden
Punkten jedoch davon abweicht.
Grützners Fotos huldigen
dem Fragment, nicht dem Ganzen, dem Ausschnitt, nicht der Totalen.
Sie abstrahiert das vorgefundene Material und die historischen Spuren
seiner Nutzung, um es mit Mitteln der Fotografie neu zusammenzufügen,
wobei diese Konkretion transitorisch bleibt, reine Gegenwart, die
Vergangenes und Zukünftiges nur evoziert, nicht evident macht.
Der
fotografische Transformationsprozess bedarf akribischer
Vorbereitung.
Auf die erste Tuchfühlung in einem
Skizzenbuch, in dem Lichtsituationen festgehalten werden und mit
Brennweiten experimentiert wird, folgen Testaufnahmen (mit Polaroid
oder digital). "Manchmal laufe ich durchs Haus und berühre
Dinge mit den Händen. Bewegung im Raum, die dem Abtasten des Raums
mit Licht und Farbe gleicht. An manchen Stellen muss man kriechen, um
Lichtsituationen auszuprobieren."
Danach wird mit
entkoppelten Aufsteckblitzen gearbeitet, die mit farbigen Gels
manipuliert werden. Das Interieur wird auf diese Weise eingefärbt,
die ursprünglich im Gasthof dominierenden Farben verschwinden. In
dem man bei den großen, analog aufgenommenen Hochformaten an der
Wand nicht sofort erkennt, ob es sich um ein Foto, Mixed Media oder
gar um Malerei handelt, erzeugt Grützner einen Foucaultschen
Illusionsraum, der sich von einem konkreten Vorbild nährt, das
fotografische Medium jedoch, wie Grützner sagt, "an seine
Ränder verschiebt, wo es einen hybriden Übergang gibt".
In
einem Brief an Emile Bernard schreibt Paul Cézanne: "Indem ich
beginne, mich von der Landschaft zu trennen, beginne ich, sie zu
sehen."
Die mithilfe des Blitzes ungemein in den
Vordergrund drängende Farbe ist bei Grützner dabei nicht Mittel,
sondern Zweck.
In "Gespräche mit Cézanne"
lässt Joachim Gasquet Cézanne sagen: "Ich möchte, sagte ich
mir, den Raum und die Zeit malen, damit sie Formen von
Farbempfindungen werden, denn ich stelle mir manchmal die Farben als
monumentale Entitäten vor, als leibhaftige Ideen. (…) Eine
luftige, farbige Logik tritt plötzlich an die Stelle hartnäckiger
Geometrie. Ich sehe in Flecken."
In "Schizophrenie
und Gesellschaft" schreibt Gilles Deleuze: "Die Arbeit des
Malers besteht darin, Klischees zu zerstören. Der Maler muss einen
Moment durchleben, in dem er nichts mehr sieht, einen Zusammenbruch
der visuellen Koordinaten. Die Katastrophe ist die Matrix des
Bildes."
Dementsprechend schrieb Paul Claudel über
die klassischen, niederländischen Stillleben, dass sie "eine
Zusammenstellung wären", die immer kurz davor steht, "sich
wieder aufzulösen".
Den
(vorläufigen) Schlusspunkt unter diesen Prozess ständiger
Verwandlung setzen Grützner und ihre Designerin Johanna Flöter ganz
zum Schluss: Während Grützner die Einzelbilder bewusst als
Hochformate konzipierte und ausstellte, weil das Hochformat "Räume
zu durchkreuzen, regelrecht zu verunmöglichen scheint, und dadurch
eine andere Form der Raumverdichtung möglich wird", werden die
Hochformate im Buch als doppelseitige Querformate arrangiert, was das
Buch zu einem regelrechten Fest fürs empfängliche Auge werden lässt
und ihm völlig zurecht einen Platz auf der Shortlist
bei der diesjährigen Ausgabe von "Rencontres Arles"
eingebracht hat.
Peter
Truschner
Review online Perlentaucher
truschner.fotolot@perlentaucher.de
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